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Besser klettern - ohne Verletzungen

Was ist Adjunct Compensatory Training und was bringt es?

8 Minuten Lesezeit
Was ist das ACT Training und was bringt es? Wer beim Klettern oder Bouldern an seine bewegungstechnischen Grenzen stößt oder immer mal wieder unter schmerzhafter Überlastung der Muskeln leidet, sollte jetzt weiterlesen. Denn das "Adjunct Compensatory Training" kann genau diese Probleme lösen.

ACT? Den meisten Kletterern dürfte das ATC, ein Sicherungsgerät, ein Begriff sein. Was aber ist ACT? Der Begriff stammt aus dem Englischen und steht für Adjunct Compensory Training, einem speziellen Kraft- und Ausdauertraining für Kletterer. Entwickelt wurde das ACT-Training von der UIAA Medical Commission in Zusammenarbeit mit den Trainingsexperten Dicki (Ludwig) Korb und Patrick Matros (Kraftfactory). Die speziellen Übungen für Kletterer sind in zwei Bereiche gegliedert:

  • Einem allgemeinen, präventiven Bereich sowie
  • einem therapeutischen Bereich mit Zusatzübungen für verletzte Kletterer.

Klettern und Bouldern: Große Bandbreite an Bewegungen

Modernes Klettern und Bouldern sind Sportarten, die eine enorm hohe Anzahl an Freiheitsgraden in ihren Bewegungen erfordern. Das Kernziel besteht darin, immer neue Bewegungsprobleme zu lösen. Deshalb wird auch von offenen Bewegungsfertigkeiten gesprochen, die es beim Klettern und Bouldern zu entwickeln gilt. Die Vielzahl an unterschiedlichen Bewegungen ergibt sich zum einen beim Outdoor-Klettern aus verschiedenen Gesteinsarten (Kalk, Granit, Sandstein, usw.) und deren spezifischem Griff- und Trittformen bzw. Unterschieden in der Gesteinsreibung.

Zum anderen setzt sich der Siegeszug des Indoor-Kletterns fort, bei dem unterschiedlich steile Wandneigungen und Oberflächenreliefs, die in den unterschiedlichsten Winkeln zu einander stehen sowie zahllose Griff- und Trittformen für eine schier endlose Zahl an Variationsmöglichkeiten sorgen.

Vor allem im modernen Indoor-Bouldern werden momentan in dieser Hinsicht die Maßstäbe gesetzt. Diese Vielfalt an Kletterbewegungen, bestehend aus Zug-, Stütz-, Stemm-, Dreh- und Schwingbewegungen, macht es sehr anspruchsvoll herauszufinden, wo die „Schwachstellen“ im Bewegungsapparat des kletternden Menschen liegen. Aufgrund von Vernachlässigung oder Überbeanspruchung stellen sie die Ursache für Überlastungserscheinungen oder Verletzungen beim Klettersport dar.

Unterschiedliche Gesteinsarten erfordern verschiedene Bewegungsmuster.

Boreal: Nacho Sanchez | Adri Sanchez

Unterschiedliche Gesteinsarten erfordern verschiedene Bewegungsmuster.


Wie wurde das ACT-Training entwickelt?

Die Lösung? Ein erster Schritt ist eine fachärztliche Diagnose, bei der Kletterverletzungen und Überlastungserscheinungen analysiert werden und eine Anamnese erfolgt. Der Sportmedizinische Stützpunkt des Klinikums Bamberg unter der Leitung von Prof. Dr. Volker Schöffel gehört hier zu den weltweit führenden Institutionen.

In einem weiteren Schritt geht es darum, problematische Bewegungsmuster beim Klettern ausfindig zu machen, die entsprechende funktionelle Anatomie zu verstehen und zu analysieren, wo sich einseitige Kontraktionsmuster und limitierte Bewegungsreichweiten zu Dysharmonien und Dysbalancen entwickeln können.

Zusammengefasst hilft das ACT-Training also…

  • Dysbalancen zu vermeiden und damit die Verletzungswahrscheinlichkeit zu reduzieren,
  • Deine Muskulatur ausgewogen zu kräftigen,
  • die intramuskuläre Koordination zu fördern,
  • und so Deinen Bewegungsspielraum (Range of Movement) zu erweitern.

Wie Du diese Übungen in Deinen Klettertrainings-Alltag einbauen kannst, beschreibt Dir dieser Beitrag:

Verschiedene ACT-Übungen...

Frank Kretschann (kaletsch medien)

Verschiedene ACT-Übungen…


Verschiedene ACT-Übungen...

Frank Kretschann (kaletsch medien)

von Patrick Matros,


Bild 2: ...in der Standwaage auf die Seite.

Frank Kretschann (kaletsch medien)

Bild 2: …in der Standwaage auf die Seite.


Bild 2: ...in der Standwaage auf die Seite.

Frank Kretschann (kaletsch medien)

und eine Wand.


Der Mythos vom Antagonistentraining

Dabei stellt man schnell fest, dass ein undifferenziertes „Antagonistentraining“, wie es mittlerweile oft beschrieben, praktiziert und beworben wird, größtenteils an der Idee eines präventiven Ausgleichstrainings vorbeigeht. Die Ansicht, dass es beim Klettern antagonistische Muskulatur gebe, die mit der Zeit aufgrund mangelnder Innervierung „verkümmere“ und deswegen „aufgebaut“ werden müsse, zeugt von einem eher naiven Verständnis der funktionell-anatomischen Zusammenhänge im menschlichen Körper.

Sinnvolles Ausgleichstraining als ACT-Training

Mit unserem Adjunct-Compensatory-Training verfolgen wir das Ziel, einseitige Bewegungsmuster zu kompensieren und Strukturen des Bewegungsapparates, die einer hohen Belastung durch sportartspezifische Techniken ausgesetzt sind, zu stärken.

Dabei spielt das Erlernen funktioneller Bewegungsmuster und deren Transfer in die entsprechende Kletterbewegung eine bedeutende Rolle. Darüber hinaus versuchen wir, vernachlässigte Muskelgruppen gezielt zu integrieren. Wir praktizieren jedoch kein Kraftaufbau-Training im Sinne des simplen Antagonisten-Trainings, sondern orientieren uns an Kriterien wie einer hohen aktiven Kontrolle einer ausgewogenen ROM (Range of Movement) des Muskel-Gelenk-Komplexes. Das Ziel: eine ausgewogene und funktionelle Körperhaltung und Bewegungsabfolge. Auf den Punkt gebracht heißt das für uns:

  • Erhalte einen hohen und funktionellen und Bewegungsradius in deinen Gelenken, die durch Sport und Arbeitsalltag einseitig beansprucht werden.
  • Versuche, eine möglichst hohe aktive neuromuskuläre Kontrolle dieses Bewegungsradius zu erreichen, zum einen durch gezielte Kräftigung der Muskulatur in endgradigen Bewegungen, zum anderen durch harmonische und funktionelle Bewegungsmuster.
ACT-Übungen verschaffen Kletterern einen größeren Bewegungsspielraum in der Wand.

Bergzeit

ACT-Übungen verschaffen Kletterern einen größeren Bewegungsspielraum in der Wand.


Die Übung muss nicht gut aussehen

Für die Praxis bedeutet dies, dass es meist nicht auf die visuelle Attraktivität der Übung ankommt, die oft durch beeindruckende und kraftgenerierte Körperpositionen sowie das Erzeugen von mehr und mehr Instabilität durch entsprechende Trainingsgeräte bestimmt wird.

Dieser „Coolness“-Faktor der Übung ist leider oft das entscheidende Argument diverser Tutorials in einschlägigen Online-Videochannels. Vielmehr kommt es auf kleine Bewegungen und ein gutes Körpergefühl an, um die entsprechenden Schwachstellen zu erreichen. Dies bringt den Akteur nicht selten in Bewegungspositionen, die sich erst einmal unangenehm anfühlen. Doch genau dort wird mit dem Schritt heraus aus der Komfortzone der eigentliche Trainingsreiz gesetzt, der zu den erwünschten Anpassungen führt.

ACT-Training: Was es ist und was es nicht sein will

Nehmen wir uns ein populäres Beispiel aus der Trainingspraxis: Die I-Y-T-Übung am Slingtrainer. Bei dieser Übung zieht man den gesamten Körper aus einer mehr oder weniger nach hinten geneigten Körperposition heraus mit gestreckten Armen im Ellenbogengelenk in eine weniger geneigte bzw. aufrechte Position.

Dies erfolgt in drei Zugvarianten der Arme:

  1. Arme senkrecht über dem Kopf nach oben gestreckt, so dass sie in Verbindung mit dem Rumpf ein „I“ bilden
  2. Arme seitlich nach oben gestreckt, so dass sie in Verbindung mit dem Rumpf ein „Y“ bilden
  3. Arme waagrecht nach außen gestreckt, so dass sie in Verbindung mit dem Rumpf ein „T“ bilden“

Grundsätzlich wird mit der Übung das Ziel ausgegeben, bestimmte Muskelgruppen des Schultergürtels zu stärken, die einer problematischen Haltung im Bereich des Rumpf-Wirbelsäulen-Komplexes vorbeugen oder diese verringern. Gleichzeitig soll der sogenannte „Core“ (also der Körperkern im Sinne der Rumpfmuskulatur) beansprucht und trainiert werden. Die Zielstellung geht im Kern auf das vom Neurologen Vladimir Janda beschriebene „upper cross syndrom“ zurück, bei dem es zu einer Verkürzung/Verklebung myofaszialer Schichten im Bereich des Schultergürtels kommt.

Die Symptomatik ist klinisch wohlbekannt und wird zum einen durch eine ungünstige sowie andauernde Sitzhaltung provoziert zum anderen können beim Klettern als „prime mover“ und Hauptstabilisatoren vorrangig eingesetzte Muskelgruppen (z.B. Mm. pectoralis major et minor oder der M. latissimus dorsi) das Problem verstärken. Bei der I-Y-T-Übung wird nun durch eine Art „Gegenbewegung“ in drei verschiedenen Armstellungen versucht, genau die Muskeln zu kräftigen, die beim upper cross Syndrom eine Kompensation bewirken sollen (stabilisierende Muskelgruppen, z.B. der mittlere und untere Anteil des M. trapezius). Eigentlich ist das eine gute und sinnvolle Sache.

Mit verbesserter Koordination und gezieltem Training Verletzungen vorbeugen.

Bergzeit

Mit verbesserter Koordination und gezieltem Training Verletzungen vorbeugen.


Im Konzept unseres ACT-Trainings kommt es aber gerade auf die in der betriebenen Sportart vernachlässigte ROM der entsprechenden Muskeln und Muskelschlingen an (maximale Öffnung des Arm-Rumpf-Winkels) und diese wird bei der I-Y-T-Übung so gut wie nicht erreicht! Wir empfehlen stattdessen z.B. als Übung für eine Verbesserung der aktiven Kontrolle der maximalen ROM im Arm-Rumpf-Winkel die Übung „Arm heben im Fersensitz“, die eine isolierte Kontrolle („geschlossene LWS“) und somit Verbesserung der problematischen Innervationsmuster gewährleistet und dennoch den propagierten Vorteil des Slingtrainers – Üben in funktionellen Muskelschlingen – bewahrt.

Dieses Beispiel soll keineswegs bedeuten, dass wir den Slingtrainer als Trainingsgerät ablehnen, im Gegenteil, wir schätzen ihn sehr! Dennoch erheben wir den Anspruch jede populäre Übung schonungslos auf ihre Stärken und Schwächen bezüglich unserer Zielstellungen zu analysieren.

Fazit: Mit Kraft, Ausdauer und Koordination besser klettern

Unsere Übungen können und wollen keinen Personal Trainer ersetzen, der durch seine fachspezifische Kenntnis und sein professionelles Screening gezielt individuelle Muster erkennen und therapieren kann. Sie erhebt jedoch den Anspruch, den gängigsten und häufigsten Verletzungen und Überlastungserscheinungen, die der Klettersport mit sich bringt, fundiert analysierte und in hunderten von Fällen bewährte Übungen entgegen zu setzen und den interessierten Leser somit eine ausgewogene und professionelle Übungsauswahl an die Hand zu geben.

Mit Kraft, Koordination und vielseitigem Training statt einseitiger Belastung hilft Dir ACT auf dem Weg, ein besserer Kletterer zu werden.

Train smart! Auch im Buch „ACT for Rock Climbers“ erfährst Du mehr über das Training.

Hier geht’s zum Bergzeit ACT-Trainingszirkel:


Über die Autoren

Patrick Matros

Patrick Matros (Diplom-Sportwissenschaftler, Lehrer Sport/Deutsch) arbeitet als Fachdozent für Sportwissenschaft und Pädagogik/Psychologie. Bis heute hat Patrick knapp 200 Kletterrouten von 8a bis 8c klettern können. Zusammen mit Dicki Korb hat der das Trainingsbuch GimmeKraft! geschrieben, was ein weltweiter Bestseller wurde. Unter dem Label „Kraftfactory“ gibt er weltweit Workshops und Fortbildungen zum Thema Klettertraining und betreut Athleten.

Dicki Korb

Dicki Korb, geb. 1966, verheiratet, 2 Kinder, Sportkletter- und Functional-Trainer, Therapeut, Pädagoge. Er klettert seit 31 Jahren und ist mittlerweile seit 16 Jahren als Trainer tätig. Seit 12 Jahren trainiert er Alexander Megos, zusammen mit Patrick Matros mit dem er auch gemeinsam Autor des Bestsellers „GimmeKraft“ ist. Er ist er viel im In und Ausland unterwegs, um Workshops für interessierte Kletterer zu halten und andere Trainer aus- und weiterzubilden. Wann immer es jedoch die Zeit zulässt, ist er immer noch am liebsten am Fels unterwegs

Volker Schöffel

Volker Schöffl, MD, PhD, MHBA, FAWM ist der leitende Arzt der Abteilung für Sportmedizin und Sportorthopädie in Bamberg. Er ist Professor für Unfallchirurgie und Orthopädische Chirurgie an der FAU Erlangen-Nürnberg und Adjoint Assistant Professor für Notfallmedizin an der University of Colorado. Sein wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt auf Klettern und Skitourengehen Verletzungen und Biomechanik der Hand. Er ist der Mannschaftsarzt des Deutschen Kletterteam, das deutsche Skimountainering Team und Mitglied der MedCom UIAA und IFSC. Volker klettert seit 35 Jahren und hat mehr als 100 Erstbesteigungen bis Französisch 8b gemacht, vor allem in Laos, Thailand, Südostasien und der Frankenjura, Deutschland.

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