Die Erwartungen sind groß als wir uns am Samstagmorgen an der Talstation der Zugspitzbahn nahe dem Eibsee einfinden. Denn schon bei zwei vorherigen Alpincamps mussten wir aufgrund der Launen des Wetters vor dem Einstieg in den Jubiläumsgrat kapitulieren. Hanna, Lea, Tobi und ich sind hoch motiviert. Wir sind uns einig: „Diesmal wird es klappen“. Zusätzlich haben wir erfahrene Unterstützung durch die BergführerInnen Maria, Christoph, Martin und Julian. Noch kurz die Ausrüstung checken und den Proviant in unseren neuen Ascent Rucksäcken (40-50l) von Lowe Alpine verstauen – dann nehmen wir die erste Gondel nach oben. Aus der höher steigenden Kabine sehen wir, wie um uns herum der gesamte Himmel wolkenlos in Hellblau erstrahlt – die Zeichen stehen gut.
Vom Zugspitzgipfel Richtung Alpspitze
Schnell verlassen wir die monströse Plattform der Zugspitze und klettern über eine kleine Scharte zum höchsten Punkt Deutschlands. Das ist bereits mein drittes Mal an diesem Gipfel, aber so schnell und einfach bin ich noch nie hochgekommen. Mit dem obligatorischen Gipfelfoto im Kasten begeben wir uns endlich das erste Mal auf den langersehnten Grat: „Hochalpine Route, nicht durchgehend versichert, Kletterausrüstung empfohlen“, lässt uns ein Schild wissen. Wir werden jeder mit einem Bergführer am Kurzseil gehen und uns zusätzlich bei Drahtseilstellen mit dem Klettersteigset und bei schwierigen Felspassagen mit Halbmastwurf sichern.
Es gibt keine Schonfrist – schnell geht die Kraxelei am Grat los. Immer wieder geht es auf kleine Gipfel und danach in die nächste Scharte hinunter. Manchmal balanciert man auf einem weniger als 50 Zentimeter breiten Grat und blickt rechts und links weit die steilen Flanken hinab. Als mein Blick über den Höllentalferner unter uns schweift, sehe ich eine Schlange aus Menschen, die sich auf dem Schnee zum Einstieg in den Klettersteig hochzieht. Dagegen haben wir es hier ziemlich entspannt. Es begegnen uns nur ab und zu andere Bergsteiger.
Unser Plan ist es, in der Biwakschachtel kurz nach der Hälfte des Jubiläumsgrates zu übernachten. Daher bleibt uns auch Zeit die Aussicht und das gute Wetter zu genießen. An den Schlüsselstellen wie der „glatten Rinne“ muss man schon mal ordentlich zupacken im ausgesetzten Gelände – so macht das Spaß am Grat auf- und abzuklettern. Auf einem der ausgeprägteren Gipfel gönnen wir uns eine ordentliche Brotzeit und blicken zurück auf den Gratverlauf bis zur Zugspitze. Kurz nachdem wir wieder aufgebrochen sind, können wir in einiger Entfernung vor uns erstmals die Biwakschachtel ausmachen. Vorbei an eindrucksvollen Felsformationen gehen wir die letzten Gipfelaufschwünge an, bevor es auf die Zielgerade geht.
Gewitternacht in der Biwakschachtel
An der kleinen, roten Box angekommen, klatschen wir uns ab und freuen uns die Ersten in der Schachtel zu sein. Wir sind immerhin schon acht Leute und die Schachtel bietet nur Platz für zwölf. Während wir uns Tee und Kaffee kochen und sich draußen am Himmel langsam die Wolken verdichten, kommen aus beiden Richtungen nach und nach ein paar weitere Leute. Um 17:00 Uhr kommt ein Mann in Jeans bei uns an und wir finden heraus, dass er plant noch weiter bis zur Alpspitze zu gehen. Er kommt aus Lettland und spricht weder Deutsch noch Englisch und so versuchen wir ihm mit Händen und Füßen klar zu machen, dass ein Gewitter aufzieht und er bei uns im Biwak bleiben soll. Um ihn zu überzeugen, bieten wir ihm auch an unser Essen und Trinken mit ihm zu teilen, aber es hilft alles nichts – schon bald zieht er weiter. Als noch eine Fünfer-Gruppe eintrifft steht fest, dass nicht jeder seine eigene Matratze haben wird. Zum Glück haben wir unseren Neutrino 400 Schlafsack von Rab dabei, sodass wir den anderen die Wolldecken überlassen können.
Dann hören wir das erste Donnergrollen und kurze Zeit später regnet es wie aus Eimern. Die Windböen schlagen die dicken Regentropfen und plötzlich auch Hagelkörner gegen die beiden Bullaugen unserer standhaften Box. Es ist ein sehr besonderes Gefühl, in einer kleinen Schachtel an einem so ausgesetzten Grat auf fast 2.700 Metern zu sitzen, während draußen die Hölle um uns hereinbricht. Wir haben es hier drin warm, gemütlich und sicher, aber wie ergeht es wohl dem Mann, der noch am Grat unterwegs ist? Kurze Zeit später schlagen die Blitze alle paar Sekunden links und rechts neben uns ein. Als wir kurz die Tür einen Spalt weit öffnen, hören wir die Luft vor Elektrizität surren und bitzeln, so etwas habe ich noch nie erlebt. Ich sage zu den anderen: „Ich kann mir kaum vorstellen, dass man so ein übles Gewitter überleben kann, wenn man an einem ausgesetzten, mit Stahlseilen versicherten Grat entlang klettert.“
Nach mehr als einer Stunde legt sich das Gewitter langsam. Als wir nach draußen gehen, eröffnet sich uns ein sagenhafter Ausblick: Die Sonne strahlt durch einen Spalt in den Wolken golden das Wettersteingebirge an und durch die Regenschleier in der Luft hat sich ein eindrucksvoller Regenbogen gebildet. Bei so einer Stimmung kann ich nicht in der Biwakschachtel bleiben. Schnell ziehe ich mir die Schuhe an und steige auf den zehn Minuten entfernten Gipfel der Äußeren Höllentalspitze (2.720 Meter). Hier habe ich einen genialen Ausblick über den restlichen Jubiläumsgrat und hinüber zum berüchtigten Blassengrat. Über den schroffen Felsgipfeln haben sich Mammatus-Wolken gebildet – ein seltenes Schauspiel, das ich so zum ersten Mal erleben darf.
Als ich zurück zur Biwakschachtel gelange, haben sich zwei spät eintreffende Russen in mein Bett gelegt. Die beiden waren noch im Gewitter unterwegs und sind übel mitgenommen. Der eine erklärt uns in brüchigem Englisch, dass ihn ein elektrischer Schlag an der Hand getroffen hat. So sind wir nun also zu siebzehnt in der Biwakschachtel und in unserem Dreier-Abschnitt zu fünft. Aber nach einem so ereignisreichen Tag wie diesem lässt es sich auch so ganz gut schlafen.
Felstürme auf dem zweiten Teil des Jubiläumsgrats
Am nächsten Morgen brechen wir früh auf, um die neuerlich angesagten Regenfälle und später Gewitter so gut wie möglich zu meiden. Doch es hilft nichts: Ein halbe Stunde nach dem Aufbruch im Morgengrauen laufen wir im Nieselregen. Die Alpspitze sieht nun schon erreichbar aus, doch es kommt noch eine schier endlose Zahl an Felstürmen, die alle überklettert werden müssen. An sich eine schöne Kletterei, aber bei nassem Fels, stärker werdendem Regen und nun auch umhüllt von Nebel, wollen wir den Grat lieber schnell zu Ende bringen. Nach langer Kraxelei erreichen wir das Grieskar und entscheiden uns, die Alpspitze unten zu umrunden. Auf der anderen Seite geht es noch durch den Nordwandsteig der Alpspitze bevor wir nach 4,5 Stunden mit Freude die Bergstation der Alpspitzbahn erblicken. Wir sind vollkommen durchweicht, aber überglücklich den Jubiläumsgrat geschafft zu haben.
PS: Eine Woche später habe ich bei der Bearbeitung der Bilder, die ich von der Äußeren Höllentalspitze aus gemacht habe, zufällig in weiter Ferne den Mann aus Lettland wiedergefunden – nur wenige Pixel groß. Er bewegte sich auf meiner Bilderserie zwar sehr langsam, aber deutlich erkennbar am Grat entlang. Der Teufelskerl hat es also überlebt ;)