„Hast Du Deine Schuhe verloren?“ – „Nein, ich bin so auf die Welt gekommen.“ Dieser imaginäre Dialog zwischen einem Vertreter unserer heutigen „beschuhten“ Gesellschaft und einem Verfechter des Barfußlaufens zeigt zweierlei: Dass das Barfußlaufen einerseits eine der natürlichsten Fortbewegungsarten des Menschen ist, und dass wir es uns andererseits im Laufe der menschlichen Geschichte fast vollständig abgewöhnt haben (mit Ausnahme von „geduldeten“ Zonen wie am Strand, im Schwimmbad oder im eigenen Zuhause).
Dabei ist Barfußgehen nicht nur gesund, sondern macht auch Spaß – man denke nur an seine eigene Kindheit in Omas Garten zurück. Natürlich verlockt nicht jeder Untergrund dazu, weshalb die Erfindung von sogenannten Barfußschuhen sehr gelegen kommt.
Wenn man aber seit seiner Kindheit nicht mehr barfuß gegangen ist, ist es mit der Umstellung – ob ganz ohne oder mit minimalen Schuhen – nicht so einfach, will man seinen Füßen wirklich etwas Gutes tun.
Wir haben Prof. Dr. med. Thomas Wessinghage, seit eh und je passionierter Barfußläufer, zum Thema befragt. Der Facharzt für Orthopädie und Physikalisch-Rehabilitative Medizin und Prorektor der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement hält regelmäßiges Barfußgehen für sinnvoll.
Im Interview erläutert der ehemalige Mittel- und Langstreckenläufer, warum Barfußlaufen gesund ist und was man als Läufer beachten sollte, wenn man auf Barfußlauf – ob komplett oder geschützt in Barfußschuhen – umsteigen möchte. Außerdem gibt er Tipps zur richtigen Lauftechnik und schrittweisen Anpassung des Lauftrainings.
Thomas Wessinghage
Thomas Wessinghage
Wie gesund ist Barfußlaufen?
Franziska v. Treuberg: Herr Prof. Dr. Wessinghage, wie gesund ist es tatsächlich, barfuß zu laufen?
Prof. Dr. med. Thomas Wessinghage: Barfußgehen und Barfußlaufen sind die natürlichsten Formen der Fortbewegung des Menschen. Die fundamentalistische Argumentation hebt hervor, dass im Bauplan des Menschen seit eh und je keine Schuhe, keine Absätze und keine dämpfenden Sohlen vorhanden waren.
Der menschliche Fuß ist so gebaut, dass sich seine Belastbarkeit auf statische und dynamische Stabilisierung gründet. Das knöcherne Gerüst – die Statik – hat sich dem aufrechten Gang angepasst und dafür im Vergleich zur Hand einen guten Teil seiner Flexibilität geopfert.
Dennoch ist auch ein dynamischer Anteil, gewährleistet durch Muskeln, Sehnen und Bänder, für eine vollkommene Funktionsfähigkeit erforderlich. Diese entwickelt sich nur, wenn der Fuß frühzeitig, also möglichst schon im Kleinkindesalter, vielfältigen Anforderungen ausgesetzt wird.
Ein gutes Beispiel ist die Greiffunktion der Zehen. Beim Barfußgehen auf Naturböden (Wiese, Waldboden, Sand, Kies etc.) wird sie sozusagen auf Schritt und Tritt gefordert und gefördert. Eingesperrt in einen festen Schuh benötigt der Fuß diese Funktionen aber gar nicht und verliert sie infolgedessen.
Alexander Fausel/pixelio.de
Es geht beim Barfußlaufen nicht um eine politische Bewegung, die uns in die Steinzeit zurückführen möchte. Es geht darum, körperliche Funktionen zu nutzen, die sich im Laufe von Jahrtausenden als sinnvoll erwiesen haben.
Prof. Dr. med. Thomas Wessinghage
Was ist sonst noch anders beim Barfußlaufen?
Barfußläufer sind Vorfußläufer. Nur so kann der Aufprall beim Aufsetzen des Fußes auf den Boden ausreichend gedämpft werden. Das „Sich-in-den-Schritt-hineinfallen-lassen“, wie es mit weichen Schuhen möglich ist, gelingt barfuß nicht. Barfußlaufen ist ein aktiver Prozess, jedes Barfußlaufen ist daher auch ein effektives Fuß- und Beinmuskeltraining.
Was sollte man als ungeübter Barfußläufer beachten?
Ist Barfußlaufen für jeden geeignet?
Kann ich mit Fehlstellungen wie Senk-Spreizfuß, Hallux valgus oder Plattfuß trotzdem barfußlaufen?
Prinzipiell sind funktionelle Veränderungen (zum Beispiel ein nicht zu ausgeprägter Senk- oder Knickfuß) an Fuß und Zehen solche, die durch gezieltes Training verbessert werden können und sollten. In diesen Fällen ist Barfußlaufen eine zwar nicht gezielte aber vollkommen natürliche Möglichkeit, den Fuß und seine Strukturen (Muskulatur, Gelenke, Bandapparat) wieder ihren ursprünglichen Fähigkeiten anzunähern.
Sobald aber erhebliche strukturelle Veränderungen am Fuß eingetreten sind (zum Beispiel Fußdeformitäten wie beim diabetischen Fuß, einer diabetischen Folgekrankheit), kann nur im Einzelfall durch einen erfahrenen Facharzt entschieden werden, ob Barfußlaufen noch möglich (ratsam) ist oder ob der Fuß eine orthopädische Zurichtung (Gewölbestütze, Abrollhilfe o.ä.) benötigt.
Gibt es weitere medizinische Kontraindikationen? Für wen ist Barfußlaufen nicht geeignet oder sogar schädlich?
Natürlich geht es beim Für und Wider des Barfußlaufens nicht nur um Füße und Zehen. So spielt zum Beispiel auch das Körpergewicht eine enorme Rolle, da es sich beim Auf und Ab des Gehens und Laufens vervielfältigt.
Ist der Mensch zu schwer, wird irgendwann auch der gesündeste Fuß Schaden nehmen. Wer im Stand seine Füße nicht sehen kann, sollte es erst mit ein wenig Gewichtsreduktion versuchen und die Barfußschuhe lediglich für kürzere Gehstrecken verwenden. Das Barfußlaufen sollte erst später in Angriff genommen werden.
Auch die Beinachsen (zum Beispiel O- oder X-Bein), die Gelenkfunktionen von Hüfte und Knie oder sogar Auffälligkeiten der Wirbelsäule sind zu berücksichtigen.
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Gibt es Unterschiede bei Frauen und Männern in Bezug auf die Empfehlungen zum Barfußlaufen?
Frauen haben weniger Muskelkraft als Männer bezogen auf das Körpergewicht. Aus diesem Blickwinkel heraus haben Frauen einen ca. 15 Prozent höheren Bedarf für das Barfußlaufen als Männer. Aber die Muskelkraft ist natürlich nur ein Aspekt eines insgesamt recht komplexen Geschehens (s.o.).
Umstieg auf Barfußlaufen: Tipps fürs Lauftraining
Welche Tipps würden Sie jemandem geben, der auf Barfußschuhe umsteigen möchte?
Voraussetzung für eine geringe Verletzungsgefahr bei der Anpassung an Barfußschuhe ist die Gewöhnung in kleinen Schritten. Das heißt: vorsichtig, auf angenehmem Untergrund (zum Beispiel gepflegter Rasen), mit kurzen Laufstrecken beginnen. Nach und nach kann man die Distanz ausdehnen, die Geschwindigkeit steigern, den Untergrund verändern.
Engagierte Barfußläufer berichten, dass es ihnen nach einigen Monaten nichts mehr ausmache, barfuß längere Strecken zurückzulegen, sogar auf Asphalt. Ein Fuß, der das kann, ist belastbarer und widerstandsfähiger gegen Verletzungen geworden.
Das Barfuß-Laufen muss sinnvoll und dosiert geübt werden.
Wie passe ich mein Lauftraining konkret an? Gibt es hierzu einen Zeitplan, angelehnt an das Fitnesslevel des Läufers?
Heute sind wir an alle möglichen Referenzwerte gewöhnt. In Bezug auf die Fähigkeiten unserer Füße ist ein „Fitnesslevel“ völliger Blödsinn. Die Fitness des Herz-Kreislauf-Systems oder des Energiestoffwechsels (z.B. eines Ruderers oder Radfahrers) hat mit der Belastbarkeit der Füße überhaupt nichts zu tun.
Daher müssen wir uns beim Einstieg in das Barfußlaufen von diesen (meist Pseudo-)Werten freimachen.
- Beginnen mit Barfußgehen.
- Aufhören bevor es unangenehm wird.
- Am (über-)nächsten Tag wiederholen, dokumentieren (zum Beispiel zehn Minuten), langsam steigern.
- Auf benachbarte Körperregionen achten (zum Beispiel Wadenmuskulatur).
- Sehr sinnvoll sind begleitende Übungen zur Dehnung, ggf. auch zur Kräftigung.
- Wichtigste Regel: nicht überfordern.
Übrigens: In diesem Beitrag findest Du wertvolle Tipps und Übungen, um Deine Fußmuskulatur zu stärken.
Arnold Zimprich
Welche Maximalstrecken sind beim Barfußlaufen sinnvoll?
Schon wieder ein Referenzwert? Es gibt keine generellen Maximalstrecken. Es gibt nur individuelle Grenzen. Die hängen von den Fähigkeiten und dem Trainingsaufbau der betreffenden Person ab. Es gibt europäische Menschen, die ohne Beschwerden einen Marathon barfuß laufen können (auf der Straße!). Es gibt viele afrikanische Menschen, die das können (auf Naturboden) und täglich praktizieren.
Wichtigste Regel für den Einstieg ins Barfußlaufen: Nicht überfordern.
Was tun, wenn ich Zeichen für eine Überlastung bemerke (z.B. Fußschmerzen, Fußkrampf, Knieschmerzen, Rückenschmerzen, Wadenmuskelkater)?
Das ist natürlich. Sinnvoll ist es, den Belastungsaufbau so zu steuern, dass ich diesen Warnsignalen vorbeuge. Wie immer beim Trainingsaufbau gilt: Langsam die Dosis erhöhen, Mut zur Pause, Belastung reduzieren, Abwechslung, Zeit geben.
Ein Beispiel: Haut und Unterhautfettgewebe verändern sich durch das Barfußlaufen. Das braucht Zeit (Monate). Wenn man sensibel ist und die zum Teil auch kleinen Fortschritte dokumentiert, wird man bemerken, wie es nach und nach voran geht.
Barfuß-Laufschuhe vs. Schuhe mit Dämpfung
Es scheint oft, als gibt es nur die zwei Lager: Laufschuhe mit Dämpfung oder Barfußschuhe. Was spricht aus medizinischer Sicht für oder gegen eine Dämpfung bei Laufschuhen?
Hier muss ich Ihnen widersprechen. Es gibt für mich mindestens drei Kategorien von Laufschuhen, nämlich erstens diejenigen mit Dämpfung und weiteren Funktionen wie einer Fersenkappe, stützenden Elementen in der Zwischensohle, einer Gewölbestütze etc., zweitens Laufschuhe mit guter Dämpfung, aber ohne jegliche Stützfunktionen (paradigmatisch sei hier der Nike Free genannt) und drittens die Barfußschuhe.
Je stärker der Fuß von seinen normalen Funktionen entlastet wird, desto schwächer wird er. Je ausgeprägter die Dämpfung eines Laufschuhs ist, desto weniger werden die körpereigenen Federungs- und Dämpfungsmechanismen genutzt. Deren Förderung ist das Ziel des Barfußlaufens.
Basti Fiedler
Gegen eine dosierte Dämpfung bei Laufschuhen ohne weitere Eingriffe in die Bewegungsabläufe des Fußes spricht meines Erachtens nichts, da diese Schuhe weniger radikal sind als die echten Barfußschuhe, die Anpassung des Läufers ist dementsprechend einfacher. Sie stellen aber durchaus erhöhte Anforderungen an den Fuß und seine Funktionen und sorgen verglichen mit dem klassischen Laufschuh für eine Adaptation des Fußes im positiven Sinne.
Die sanft gedämpften Laufschuhe sind aus meiner Sicht ein vernünftiges Zugeständnis an die modernen Böden (Asphalt, Beton). Und auch an meine eigene Unzulänglichkeit.
Asphalt vs. Wald: Welche Rolle spielt der Untergrund?
Ist Barfußlaufen auf Asphalt ungesund? Oder anders gefragt: Welche Untergründe eignen sich besonders gut oder schlecht?
„Naturboden“ ist prinzipiell gut (aber welcher Naturboden?). Früher hatte ich viele Diskussionen über Straße vs. Wald. Ich fragte: welcher Waldboden? Der lehmige Waldboden im Eichen- oder Buchenwald? Zu welcher Jahreszeit? Nach mehrwöchiger Trockenperiode ist dieser Boden genauso hart wie die Straße. Die aber ist eben, keine Wurzeln, keine Steinchen. Also sollte man nicht pauschalisieren, sondern individuell und situativ bewerten.
Ein Beispiel: Ich liebe Barfußlaufen am Strand bei Ebbe. Zu Beginn bekomme ich nach 20 bis 30 Minuten erste Hautabschürfungen zwischen den Zehen, weil ich es nicht gewöhnt bin. Also habe ich gelernt, anfangs nur zehn Minuten barfuß am Strand zu laufen. Nach drei Wochen sind 45 Minuten kein Problem mehr.
Beim Trailrunning besteht aufgrund des unebenen Untergrundes leichter die Gefahr umzuknicken, außerdem trägt man mit einem (Trink-)Rucksack zusätzliches Gewicht. Sind Barfuß-Laufschuhe auch fürs Trailrunning uneingeschränkt zu empfehlen?
Wer’s kann, der kann. Viele Bergschuhe schützen nicht vor Umknicken. Ich persönlich würde niemals mit Bergschuhen Trailrunning betreiben. Ich würde aber einen Trailrunningschuh mit leicht gedämpfter Sohle den radikalen Barfußschuhen vorziehen, weil er auf Kies, spitzen Steinen und Geröll komfortabler ist.
Basti Fiedler
Technik: Richtig barfuß laufen
Wie läuft man richtig barfuß?
Barfußlaufen ist Vorfußlaufen. Aufsetzen des Fußes etwa in Höhe des Kleinzehengrundgelenkes, dann weich einfedern, bis die Ferse den Boden berührt. Zunächst langsames Lauftempo, kleine Schritte, kurze Strecken mit Gehpausen, um den Unterschied zwischen Gehen und Laufen zu spüren.
Kann man sich auch eine „falsche“ Lauftechnik angewöhnen? Oder findet der Fuß, wenn man es schrittweise angeht, automatisch in seine natürliche Barfuß-Gehbewegung?
Im Prinzip macht der Körper von allein alles richtig. Aber kann man dieses Prinzip auf Menschen anwenden, die niemals ihren Körper gefordert haben und niemals längere Strecken zu Fuß zurücklegen bzw. zurückgelegt haben? Je weiter entfernt sich jemand zum Zeitpunkt null von einem natürlichen Körpergefühl befindet, desto länger muss der Prozess der Eingewöhnung bemessen sein.
Was möchten Sie uns zu dem Thema sonst noch sagen?
Vorsicht vor dem ideologischen Barfußlaufen. Hier geht es nicht um eine politische Bewegung, die uns in die Steinzeit zurückführen möchte. Es geht darum, körperliche Funktionen zu nutzen, die sich im Laufe von Jahrtausenden als sinnvoll erwiesen haben, die uns aber im Zuge der Zivilisation abhanden gekommen sind. Vor allem als Antwort auf millionenfache Zivilisationskrankheiten, die wir allein durch einen vernünftigen Lebensstil vermeiden könnten. Nicht mehr, nicht weniger.
Wir bedanken uns sehr herzlich bei Prof. Dr. Wessinghage für das Interview!
Dieses Interview wurde erstmalig 2014 geführt und im Jahr 2022 mit weiteren Fragen umfassend ergänzt.
Mehr über Barfußschuhe – für den Laufsport und den Alltag – erfährst Du hier:
Was sind Barfußschuhschuhe und welche Vorteile haben sie?
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