An einem traumhaft schönen August-Samstag wandern wir in den Allgäuer Alpen auf den Spuren des Alpinisten und Forschers Hermann von Barth (1845-1876). Dieser hatte den Gipfel des Hochvogel im Juli 1869 als erster Tourist erstiegen, eine Nacht dort verbracht und in seinem Klassiker Aus den nördlichen Kalkalpen von 1874 darüber berichtet. Oft schon, schreibt Barth, habe er sie erblickt, „die unvergleichlich grossartige Pyramide, mit ihrem schlanken Haupte, ihren regelmässig gebauten Schultern … taucht sie empor vor dem Wanderer inmitten des Kreises ihrer Felsentrabanten, so luftig klar, so kühn in den Himmel hineinstrebend …“
Lange Wochen war der 2.592 Meter über das Meer hinausragende Allgäuer Gipfel das Ziel des Sinnens und Trachtens nicht nur von Barth gewesen, sondern auch von uns. Mitte August packen wir, kurzentschlossen ob der Prophezeiung perfekten Bergwetters, das Allernötigste in unseren Campingbus und fahren gen Bad Hindelang. Zeit, den Fahrradträger samt Bikes zu montieren, haben wir nicht mehr, doch irgendwo im weltweiten Netz haben wir gelesen, dass die Busverbindungen von Bad Hindelang über Hinterstein und die für private Kraftfahrzeuge gesperrte Straße bis zum Ausgangspunkt der Tour am Giebelhaus aufeinander abgestimmt wären.
„…die unvergleichlich grossartige Pyramide. mit ihrem schlanken Haupte…“
Ein Blick auf die Fahrpläne vor Ort belehrt uns rasch eines Besseren. An Wochenenden und Feiertagen tritt der Bus eine satte Stunde später als sonst den Dienst an. Besondere Würze erhält das Ganze dadurch, dass der Bus trotz der langen Sommertage schon kurz nach achtzehn Uhr die letzte Rückfahrt absolviert.
Wir beginnen zu rechnen: zwanzig vor neun los am Giebelhaus und Zeit bis sechs, nach Adam Riese also neuneinhalb Stunden Zeit für eine Tour, von der wir lediglich wissen, dass allein schon für den Weg vom Giebelhaus auf den Hochvogel-Gipfel sechs Stunden Gehzeit veranschlagt und fast 18 Kilometer sowie mehr als 1.600 Höhenmeter zu bewältigen sind. Doch wir wagen das Experiment, steigen um kurz vor acht in den Linienbus und kommen pünktlich um fünf nach halb neun am Giebelhaus auf 1.068 Metern an.
- Tipp: den Fahrradträger doch lieber montieren und von Hinterstein zum Giebelhaus radeln (10 Kilometer). Mit dem Rad lässt sich die Strecke ohne große Schwierigkeiten zurücklegen. Nach der Tour ist man dann nicht in Eile, um den letzten Bus noch zu erwischen
Giebelhaus – Untere Bärgündele-Alpe – Prinz-Luitpold-Haus
Wir müssen die auf den Wegweisern angegebenen Zeiten deutlich unterbieten, wollen wir noch Zeit für eine Gipfelrast auf dem Hochvogel haben und nicht den ganzen Abend zu Tale wandernd verbringen. So gehen wir, wie einst von Barth, durch das schattige Bärgündele-Tal im „schnellsten Marschtempo“ bergan – der Alpinist seinerzeit allerdings aus Gründen der Ungeduld.
Am Sausteig (1.132 Meter), etwa auf halber Strecke zwischen Giebelhaus und Bärgündele-Alpe, ziehen wir eine erste Bilanz: Wir haben auf dieser ersten Etappe schon neunzehn Minuten gutgemacht. Bald nehmen wir den schmalen Fußpfad, der links von der Straße abzweigt, unter die Bergstiefel. Der Abzweig ist gut zu erkennen an den vielen Mountainbikes, die geduldig auf ihre gerade bergsteigenden Besitzer warten. Hätten wir nur die Bikes mitgenommen…
Ein hübscher Waldweg führt erst hinunter in die Klamm des Bärgündele-Baches und, nach Querung desselben, hinauf zur unteren Hütte von Bärgündele (1.322 Meter). Unser Gehtempo ist unvermindert hoch, und nicht einmal eine Stunde nach dem Start am Giebelhaus stehen wir vor der Unteren Bärgündele-Alpe, die ihre Pforten noch geschlossen hat.
Im zunehmend baumloser werdendem Terrain läuft die Vormittagssonne schon zur Hochform auf, und die warmen Fleecejacken wandern in unsere Rucksäcke. Ein paar Kehren später entdecken wir weit über uns das nächste Etappenziel, das Prinz-Luitpold-Haus (1.842 Meter), und hasten ihm entgegen. Der Weg zieht sich, der Schweiß rinnt. Auf der Sonnenterrasse, die noch im Schatten liegt und eine wunderschöne Aussicht auf das Panorama mit dem Großen Daumen (2.280 Meter) im Zentrum bietet, gönnen wir uns eine kurze Pause, denn wir liegen gut in der Zeit.
Prinz-Luitpold-Haus – Balkenscharte – Kalter Winkel – Hochvogel
Im kargen „Oberen Tal“ wird das schnelle Gehen auf dem steinig-gerölligen Untergrund immer beschwerlicher. Noch versteckt sich das Ziel unserer Mühen hinter der Kreuzspitze (2.369 Meter). Zwischen Fuchskar- und Kreuzspitze klettern vier schwarze und zwei weiße Schafe behende in felsigem Terrain, und auf der massiven Treppe, die das sehr steile Stück hinauf zur Balkenscharte (2.156 Meter) entschärft, liegen sich die Mitglieder einer in Joggingschuhen wandernden Familie zünftig in den Haaren.
Wir gehen schnell vorbei und sind bald darauf an der Scharte – der Balken (2.172 Meter), eine kirchturmartig geformte Felssäule am Übergang, gab derselben den Namen – angekommen. Nur kurz genießen wir den bezaubernden Tiefblick hinunter ins Schwarzwassertal, und wenige Meter nach dem Übertritt auf die Tiroler Schwarzwasserseite steht er plötzlich vor uns, der Hochvogel. Schnellen Schrittes kommen wir ihm, die Geröllhalden unterhalb der Kreuzspitze fast auf Höhenlinie querend, näher.
„Zu wirrem Getrümmer aufgelöst, breitet die Hochvogelpyramide sich aus“
Am Sättele (2.136 Meter) bildet sich ein kleiner Stau, denn an der Engstelle, die eine kleine Kletterei erfordert, kommen uns mehrere Wanderer entgegen. Die dunkelgraue Pyramide des Hochvogel ragt riesenhaft vor uns auf. Schließlich stehen wir am Einstieg des scheinbar unvergänglichen Schnees im Kalten Winkel; „sein blendendes Weiss“, schrieb Barth, „erfüllt die breite Gasse …. trichterförmig verengt sie sich nach oben in immer steilerer Hebung; an schmaler, lichter Scharte berührt die Schneedecke den Horizont“. Zu Hermann von Barths Zeiten hatte der Firnanstieg durch die enge Felsenbucht mit einer Steigung von bis zu 45 Grad einen üblen Ruf, und auch heute noch wirkt der ehemalige Hochvogel-Gletscher bisweilen angsteinflößend. Mit kräftigen Tritten stapfen wir Stufe um Stufe durch den Schnee hinauf zur Kaltwinkel-Scharte (2.283 Meter) und weiter über die „Schnur“, wie der Allgäuer Volksmund das zum Teil überdachte Felsenband an der Nordwestschulter des Hochvogel nennt.
„Zu wirrem Getrümmer aufgelöst, breitet die nordwestliche Flanke der Hochvogelpyramide sich aus und strebt in starkem Steigungswinkel ihrer Gipfelhöhe zu …, je weiter aufwärts der ermüdende Schritt den Wanderer trägt. Das häufig sich zeigende Gipfelkreuz scheint unveränderlich gleiche Entfernung zu bewahren.“ – Worte des Hermann von Barth, die aktueller kaum sein könnten.
Auch wir kämpfen uns in höchstmöglichem Tempo mit Händen und Füßen die enggestuften Felsbänke bergan, müssen aber immer wieder anhalten, weil vor uns etliche Wanderer mit sich selbst und dem Berg zu kämpfen haben. Ein Herr fortgeschrittenen Alters kann nicht warten und tritt bei seinem Überholvorgang einen halben Zentimeter neben meine Finger, die am Fels Halt suchen. „Wo die Leute nur ihre Augen haben mögen, wenn sie den Berg ersteigen?“ Diese Barth‘sche Frage ist bis heute unbeantwortet geblieben. Wir machen uns einen Spaß daraus und nehmen die Verfolgung des Ungeduldigen auf, der sich hektisch umschaut und die Knie mit Hilfe seiner Hände durchzudrücken beginnt. Zu dritt eilen wir dem Gipfel entgegen.
Am Gipfelkreuz breitet sich ein 360-Grad-Panorama um uns aus, das seinesgleichen sucht: die Hornbach-Kette, das Zugspitz-Massiv, die Eisgipfel der Zillertaler, Ötztaler und Stubaier Alpen, die Mieminger Berge, der Alpstein, die Ortlerberge, die Verwall-Gruppe und viele weitere gute Bekannte mehr. Der Blick auf die Uhr zeigt, dass wir Zeit für eine etwas ausgedehntere Gipfelrast haben. Wir waren schnell, haben trotz der kleinen Staus die offiziell veranschlagte Zeit für den Gipfelsturm um fast zwei Stunden unterboten. Hermann von Barth hatte mangels „Restauration“ den Weg zum Hochvogel mit leerem Magen zurückgelegt, wir aus Zeitgründen. Hungrig vertilgen wir unseren Proviant. Bergkäse und Roggenbrot schmecken nirgends so gut wie auf dem Gipfel eines Berges.
Der Abstieg
Nach einer halben Stunde sind wir wieder auf dem Weg. Während sich Hermann von Barth seinerzeit das Ziel gesetzt hatte, „die Möglichkeit des Abstiegs nach Hinterhornbach zu erproben“, schlagen wir an der Kaltwinkel-Scharte den Weg um die Kreuzspitze herum ein und bewältigen die kurze, fast zu gut versicherte Passage ohne Klettersteigset und Co. problemlos. Von der Südflanke der Kreuzspitze zeigt sich die stattliche Pyramide des Hochvogel noch einmal in ihrer ganzen Pracht. Wir verabschieden uns von ihr mit einem stillen „Bis bald!“, und gehen durch das Obere Tal bergab zum Prinz-Luitpold-Haus, wo Kuchen und Holunderwasser unseren Hunger und Durst notdürftig stillen und wir das grandiose Panorama bewundern.
Ein Wanderer am Nachbartisch freut sich sichtlich über die riesige Portion Kässpatzen, die er gerade serviert bekommen hat. Wir schauen sehnsüchtig hinüber. Kässpatzen – das wär‘s! Der Blick auf die Uhr aber zeigt: Zwei Stunden bleiben uns noch für den Rückweg zur Bushaltestelle am Giebelhaus. Wir müssen weiter. Auch an der Bärgündele-Alpe, wo zahlreiche Gäste bei Weizenbier und zünftiger Brotzeit die Spätnachmittagssonne genießen, hasten wir vorüber. Keine Kässpatzen, kein Käsebrot. Der Bus wartet nicht. Der Abstieg durch die Klamm des Bärgündele-Baches raubt uns die letzten Körner, und die Asphaltstraße hinunter zum Giebelhaus scheint kein Ende zu nehmen. Um fünf vor sechs, fünfzehn Minuten vor der letzten Fahrt des Giebelhaus-Busses, sind wir tatsächlich an der Bushaltestelle angekommen.
In Bad Hindelang baden wir unsere müden Füße im Kneippkur-Becken, lassen diese wunderschöne Tour Revue passieren und kehren anschließend im schönen Biergarten der Alten Schmiede ein. Was wir bestellen werden, war beim Abschied vom Prinz-Luitpold-Haus schon beschlossene Sache: Kässpatzen.
Tourdaten zur Hochvogel-Besteigung
Anreise und Einkehr
- Start und Ziel: Giebelhaus im Hintersteiner Tal, Bad Hindelang (www.giebelhaus.de)
- Anreise nach Bad Hindelang und Hinterstein mit öffentlichen Verkehrsmitteln: Mit der Bahn bis Sonthofen, dann mit dem Bus über Bad Hindelang nach Hinterstein (Fahrpläne).
- Anreise mit dem Auto: Aus Richtung München: A96 bis Buchloe, B12 bis Kempten, B19 bis Sonthofen; aus Richtung Norden: A7 bis Kempten, B19 bis Sonthofen, B308 nach Bad Hindelang, am Ortseingang erste Kreisverkehr-Ausfahrt Richtung Hinterstein. Parkplatz auf der Höh, 2,50 Euro pro Tag, Buchung für mehrere Tagen ist möglich. Wohnmobilstellplatz: Wohnmobilpark und Restaurant Wiesengrund
- Von Hinterstein zum Ausgangspunkt der Tour am Giebelhaus: Mit dem Giebelhaus-Bus zum Giebelhaus. Fahrzeiten je nach Jahreszeit (Fahrplan). Mit dem Fahrrad oder – für sehr Ambitionierte – zu Fuß bis zum Giebelhaus und weiter bis zum Abzweig des Wanderpfades Richtung Prinz-Luitpold-Haus.
- Einkehrmöglichkeiten: Hinterstein: Prinz-Luitpold-Haus, Bad Hindelang: Alte Schmiede, Gasthaus Ostrachwellen
Wegdaten
- Länge: 17,7 Kilometer (Giebelhaus – Hochvogel und zurück), 33,7 Kilometer (Hinterstein Parkplatz „Auf der Höh“ – Hochvogel und zurück), 46,5 Kilometer (Bad Hindelang Parkplatz am Busbahnhof – Hochvogel und zurück)
- Höhendifferenz: 1.059 bis 2.586 Meter
- Höhenmeter: 1.628 Meter
- Schwierigkeitsgrad: schwer und konditionell anspruchsvoll, wenn Tagestour unter Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel (Zeitdruck!), etwas einfacher bei Fahrradnutzung bis zum Ausgangspunkt der Tour, mittel bei Aufteilung auf zwei Etappen und Nächtigung im Prinz-Luitpold-Haus. Für alle Varianten gute Kondition, Bergerfahrung, Trittsicherheit und Schwindelfreiheit zwingend erforderlich.
Karte, GPS-Track und Literatur
- Karte: Kompass Wanderkarte WK 3, Allgäuer Alpen, Kleinwalsertal. 1:50000. August 2013
- Literatur: Barth, H. v. (1874). Eine Nacht auf dem Hochvogel. In: ders., Aus den nördlichen Kalkalpen: Ersteigungen und Erlebnisse in den Gebirgen Berchtesgadens, des Algäu, des Innthales, des Isar-Quellengebietes und des Wetterstein. (S. 166-189). Gera: Amthor.