Über Tamara Lunger und die Exkursion
Tamara Lunger hat schon als Kind immer den schwierigen, mühevollen Weg gewählt. Bereits in ihrer Kindheit versteht sie, dass sie die Berge liebt und eine große Leidensfähigkeit besitzt. Mit 23 Jahren besteigt sie ihren ersten Achttausender und ist damit die jüngste Frau der Geschichte am Gipfel des Lhotse. 2014 schafft sie es, als zweite italienische Frau in der Geschichte des Extrembergsteigens, den Gipfel des K2 ohne Sauerstoff zu erreichen. Dieses Jahr beschließt sie, zum „Berg der Italiener“ zurückzukehren, um etwas Einzigartiges zu versuchen: zum ersten Mal überhaupt den K2 im Winter zu besteigen. Während zehn nepalesische Bergsteiger den Gipfel erreichen und Geschichte schreiben, wird die Expedition für Tamara Lunger zur Tragödie. Zuerst sieht sie wenige Meter neben sich ihren Freund Sergi Mingote abstürzen. Die Südtirolerin bleibt eine Stunde lang an seiner Seite, spricht mit ihm und versucht, ihm die letzten Minuten zu erleichtern. Schließlich sterben auch Atanas Skatov, Muhammad Ali Sadpara, John Snorri Sigurjónsson und Juan Pablo Mohr, JP genannt, mit dem Tamara Lunger nach dem Tod von Sergi Mingote eine enge Freundschaft verbindet. Diese Todesfälle führen dazu, dass die italienische Extrembergsteigerin sich über ihr Leben und das Bergsteigen Gedanken macht. Das Vorgefallene erfordert eine Denkpause, und daher gibt sie vorübergehend ihre Versuche auf, die Riesen der Erde im Winter zu besteigen.
Im Interview mit der Extrembergsteigerin
Wie geht es Dir, Tamara?
„Ich bin beim Grübeln. Von Anfang an habe ich eine starke Energie mit dem K2 gespürt. Dieser Berg verlangt dir wirklich alles ab, sowohl psychisch als auch physisch. Ich versuche immer zu verstehen, was mir der Berg mitteilt, ob es ein guter Moment ist aufzusteigen oder ob es besser ist anzuhalten. Nachdem Nirmal „Nims“ Purja zum ersten Mal in der Geschichte eine Winterbesteigung des K2 geschaffte hatte, hat er mich gewarnt: „Tamara, pass auf, dieser Berg verzeiht dir nichts!“. Er hat mir dann auch einen seiner Glücksbringer geschenkt. Ich denke viel über das Vorgefallene nach. Warum sind genau diese fünf Personen gestorben und nicht andere? Wieso bin ich noch am Leben? Aber ich bin natürlich froh, hier zu sitzen und mit Dir reden zu können“.
La Sportiva | Matteo Pavana
Was ist Dir von deiner Expedition am K2 geblieben?
„Anfangs dachte ich, die Expedition würde erfolgreich sein. Wir waren sicher, dass wir den Gipfel erreichen würden. Dann aber ist sie ein Albtraum geworden. Es war sehr schwierig. Ich habe gespürt, dass wir nicht willkommen waren, dass uns der Berg nicht haben wollte. Ich habe mich nicht zuhause gefühlt, dieser Ort hat mir nicht gutgetan. Ich sah den K2 mit ganz anderen Augen als noch im Jahr 2014. Er hat mir fast Angst gemacht. Im Camp 3 hatte ich fast Panik, es war unglaublich kalt. Ich habe nur drei Fotos von mir mit dem K2. Das bedeutet wohl, dass ich auf der Suche nach etwas Anderem war“.
Wieso hast Du schlussendlich nicht versucht, mit den anderen Bergsteigern den Gipfel zu erklimmen?
„Mein Ziel der Expedition war es hauptsächlich zu spüren und zu verstehen, was mir der Berg mitteilen wollte. Ich wollte diesen Gefühlen gegenüber offen sein, und ich habe tatsächlich viel mehr gespürt als andere Male. Als ich aufgebrochen bin, befand ich mich nicht in Bestform. Ich war etwas krank und ich wusste, dass ich nicht ganz bei Kräften war. Ich habe die verschiedenen Signale zusammengefügt, besonders diejenigen, die mir der Berg gab, und deshalb habe ich im Camp 3 beschlossen, den Gipfel nicht zu besteigen. Für mich ist es aber sehr wichtig, kurz vor JPs Aufbruch dort gewesen zu sein“.
Du hast gesagt, es braucht Zeit … Was meinst Du damit?
„Nach der Tragödie am Cho Oyu, bei der Walter Nones gestorben ist, habe ich sechs Monate gebraucht, um meine Begeisterung für den Berg wiederzufinden. Nun weiß ich nicht, wie lange ich brauchen werde, mich wieder vollständig zu erholen, und ich weiß auch nicht, wie meine Zukunft aussehen wird. Wenn derartige Dinge geschehen, habe ich immer viele Fragen und muss Antworten finden“.
Du hast gesagt, dass Du wegen dieser Vorfälle Deine Winterversuche unterbrichst. Aber Du hast doch das Risiko immer in Kauf genommen, oder?
„Ja, ich habe immer gewusst, dass es sehr gefährlich werden könnte. Womöglich musste diese Expedition am K2 so furchtbar sein, damit ich verstehe, dass ich in Zukunft vielleicht etwas anderes machen soll. Mir ist stets bewusst, dass es schieflaufen kann, aber wenn deine Freunde sterben, dann ist das trotzdem schrecklich. Ich habe von Anfang an gedacht, dass die Seilschaft von Sergi und JP die beste sei: Sie waren immer gut gelaunt, wir haben gemeinsam gesungen und es hat wirklich Spaß gemacht. Sie waren stets positiv und haben mir das Gefühl gegeben, zuhause zu sein. Ich habe mich gefragt, warum genau sie? Warum Ali, der so viel Erfahrung hatte und nie Risiken eingegangen ist? Ich versuche das zu verstehen“.
La Sportiva | Matteo Pavana
Der Erfolg der Nepalesen und der Verlust Deiner Freunde: am K2 lagen Freude und Leid nah beisammen. Was bedeutet für Dich der Berg?
„Obwohl es wirklich harte Erfahrungen sind, muss ich ehrlich zu mir sein: In den Bergen suche ich intensive Momente, die mir Lektionen für die Zukunft erteilen sollen. Auch auf dieser Exkursion habe ich sehr viel gelernt. Ich habe mich sehr vielen Situationen gestellt und schlussendlich war es nicht mehr eine Priorität, den Gipfel zu erreichen. Ich war wirklich froh für die Nepalesen, wir haben alle zusammen angestoßen und ich war stolz auf sie, sie haben es verdient. Diese Feier hatte für mich aber etwas an Wert verloren, da ich am Tag ihres Erfolgs Sergi Mingote abstürzen und sterben sah. Von da an habe ich nur daran gedacht, wie ich diesen Todesfall verarbeiten könnte. Mit JP habe ich mich auf Anhieb gut verstanden, wir haben uns gegenseitig Kraft gegeben. Wir haben uns beide sehr gebraucht und wir waren immer zusammen, wir haben sehr viel geredet, geweint, gelacht. Wir haben uns wirklich geholfen. Sein Tod hat mir das Herz gebrochen“.
Der Berg wird oft als etwas Cooles beschrieben (was auch stimmt), aber vielleicht wird manchmal das Thema Sicherheit etwas vernachlässigt. Andererseits hört man oft: „Als Extrembergsteigerin hat sie es nicht anders gewollt.“ Was denkst Du darüber?
„Der Berg ist alles: Er kann die größte Freude deines Lebens sein und dir eine halbe Stunde später alles nehmen. Wie ein Mensch mit tausend Gesichtern wechselt er von der Freude zur Trauer bis hin zur Bosheit. Manchmal mag er dich, manchmal überhaupt nicht. An gewissen Tagen taucht ein unglaublicher Nebel auf und er scheint dir sagen zu wollen: Geh weg von hier! Es hängt sehr davon ab, was man in jenem Moment spürt: Manche halten den K2 für den schwierigsten Berg der Welt, weil vielleicht die, die über ihn sprechen, eine schlechte Erfahrung gemacht haben. 2014 war ich vollkommen im Einklang mit diesem Berg, ich fühlte mich stark, zufrieden und konnte es kaum erwarten, hochzugehen; ich vernahm eine äußerst positive Energie. Dieses Mal hingegen hat sich der Berg in einem anderen Gewand gezeigt: Ich wusste, dass ich mich sehr vorsichtig bewegen musste, dass ich mir keinen Fehler leisten durfte. Ich war mir bewusst, dass diese winterliche Expedition am K2 die schwierigste meines Lebens werden würde“.
Worauf hast Du besonders geachtet? Was konntest Du Dir nicht leisten?
„Im Dunkeln zu gehen. Ich hatte vor meinem Aufbruch beschlossen, das nur im äußersten Notfall zu tun. Ich wollte aufbrechen, das nächste Lager erreichen und das Zelt aufschlagen – alles immer bei Tageslicht. Es ist viel wahrscheinlicher, dass deine Hände abfrieren, wenn du das Zelt im Dunkeln aufbaust. Und vielleicht weht dann auch noch Wind. Und dann ist deine Expedition zu Ende“.
La Sportiva | Matteo Pavana
Welche waren die größten Schwierigkeiten, denen du während deiner winterlichen Expedition am K2 begegnet bist?
„Die erste große Schwierigkeit kam, als wir uns am Gletscher verirrt haben und statt zwei Stunden fünf Stunden bis zum Camp gebraucht haben. Ich hatte keine Stirnlampe: eine hatte ich verloren und bei der anderen war die Batterie leer. Die Lampe meines Partners, eines irischen Bergsteigers, war auch fast leer und ihr schwaches Licht kurz vor dem Erlöschen. Die Bedingungen sind anders als im Sommer, wenn viel mehr Schnee liegt. Im Winter ist alles gefroren, du gehst immer auf Steigeisen und die körperliche Anstrengung ist riesig. Besonders für die Beine ist es sehr anstrengend. Außerdem fielen häufig große Felsbrocken von oben herab. Diese Felsstürze wurden oft ungewollt von anderen Bergsteigern ausgelöst, die über uns waren. Eine dieser Felsenmassen hat einen Bergsteiger getroffen und seinen Helm zerstört, er hatte einen komplett herausstehenden Knochen. Beim Abstieg habe ich bemerkt, dass sehr viele Nägel locker und die Seile nicht mehr sicher waren, weshalb ich bei jedem Schritt alles nachgeprüft habe. Ich musste stets konzentriert bleiben. Natürlich musste ich mich auch vor der Kälte schützen und Fehler vermeiden, die fatale Folgen gehabt hätten, wie z.B. die Handschuhe zu verlieren. Wenn du nur mehr einen Handschuh übrighast, ist das keine gute Sache. Zum Glück habe ich einen linken und einen rechten zweier verschiedener Paare verloren, und ich hatte immer zwei oder drei als Reserve“.
Wer ist Tamara Lunger im Alltag?
„Das würde ich auch gerne wissen! (lacht). Der Alltag ist für mich viel mühsamer als eine Expedition. Am Berg muss ich nicht gegen die Bürokratie ankämpfen, es gibt keine Rechnungen, die man bezahlen muss. Diese Dinge kann ich gar nicht ausstehen! Ich versuche jeden Tag etwas für mich zu machen, ich arbeite an mir, ich mache Achtsamkeitsübungen und meditiere, ich lese, denke nach, schreibe. Ich versuche ständig, mich zu verbessern und die Person zu werden, die ich sein möchte. Außerdem trainiere ich, auch wenn ich im Moment nicht besonders motiviert bin. Ich habe keine Lust auf den Berg zu gehen oder Skitouren zu machen. Ich habe Lust auf Radfahren und vor allem auf Wärme und Meer. Ich brauche eben noch ein wenig Zeit“.
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