Während unten im Tal bei Garmisch die Hitze brütet, steigen wir frisch und luftig in unsere Nordwestwand ein. Der Untere Schüsselkarturm ist eingebettet in ein Amphitheater aus Kalk und damit meist kühl und angenehm schattig, so wie viele der anderen Wände im Oberreintal. Aus den Schneefeldern in den Karen des Wettersteingebirges fließt noch beständig das Wasser. Die knorrigen Ahornbäume vor der Oberreintalhütte spenden Schatten und erinnern gleichzeitig an Tolkiens Auenland. Für heiße Sommertage also genau das Richtige.
Axel Grusser
Oberreintal – eine andere Welt
Schon beim Verlassen des Reintales – rechts geht’s zum Schachenhaus, links ins Oberreintal – ahnt man, was sich da oben verbirgt. Nämlich ein ruhiger, idyllischer Platz, ein Kleinod ohne Durchgangsverkehr, denn das Tal ist eine Sackgasse. Aus diesem Grunde trifft man oben auf der urigen Oberreintalhütte (1.525 Meter) meist nur Kletterer. Zwar ist die Hütte ein Selbstversorgerhaus, aber Hans, der Hüttenwart, kocht auch das mitgebrachte Essen. Vor allem hat er stets Kaffee, Bier und Limonade griffbereit. Darüber hinaus kennt Hans alle Geschichten, Anekdoten und Zwischenfälle zu diesem geschichtsträchtigen Stückchen Bergwelt.
Axel Grusser
Axel Grusser
Die Kletterer prägen und prägten hier die Kultur. Das ist im gewaltigen Talkessel wirklich kaum zu übersehen. Viele witzige, schräge und überraschende Kleinigkeiten gibt’s im Oberreintal zu entdecken – vor allem an, in und um die Hütte, aber auch oben in den Wänden. Mehr sei dazu aber nicht verraten, das soll dann schon jeder selbst aufspüren. Schon auf den ersten Blick ist das Oberreintal eine andere Welt, vor allem verglichen mit den an Größe und Komfort kaum noch zu überbietenden modernisierten Alpenhütten. Aber je länger man bleibt, desto klarer wird, dass das hier die richtige, und alles andere eine andere Welt ist.
Zugegeben, für besonders „Leichtfüßige“ hält sich der Kletterspaß im Oberreintal in Grenzen, denn bis zum vierten und unteren fünften Grad gibt es nur eine überschaubare Anzahl an Routen. Interessant wird es ab dem fünften Grad, nach oben hin sind dann keine Grenzen gesetzt. Das gilt sowohl für den Schwierigkeitsgrad, als auch für den Absicherungsstil. Und auch wenn viele der Routen mit vernünftigen Klebehaken an den Ständen und vereinzelten Bohrhaken den Seillängen saniert wurden gilt im Oberreintal meist: „A bisserl übern Haken steigen musst scho!“
Die Kletter-Klassiker im Oberreintal
Radlkant’n
Die von Solleder und Hausmann 1920 erstbegangene Südwestkante am Oberreintalturm ist sowohl die bekannteste, als auch die am häufigsten gekletterte Tour im ganzen Kessel. Nicht nur, weil sie sich mit dem unteren fünften Grad in überschaubaren Schwierigkeiten hält, sondern auch weil sie, sagen wir mal „gestalterisch äußerst interessant ist. Den Einstieg markiert ein Verkehrsschild und in der sechsten Seillänge hängt tatsächlich ein echtes Fahrrad an der Wand – und zwar seit Urzeiten. Klettertechnisch schwankt man zwischen leichteren Genusspassagen und einzelnen schwierigeren Stellen. Haken stecken einige in der Route, aber Bandschlingen und der eine oder andere Friend sollte noch selbst dazugelegt werden.
Axel Grusser
Axel Grusser
Herbst/Teufel
Im rechten Bereich der Nordwand des Unteren Schüsselkarturmes startet die Nordwestwandroute von Herbst und Teufel aus dem Jahre 1935. Der Fels ist hier rau und griffig, aber durchaus auch kompakt und nicht immer leicht abzusichern. Neben den Ringen an den Ständen gibt es auf die neun Seillängen verteilt noch 14 Bohrhaken als Zwischenhaken. Wem das nicht genügt, der sollte vor allem Bandschlingen für Köpfel und Zacken mitbringen. Dann wartet recht homogene, traumhafte Kletterei im fünften bis unteren sechsten Schwierigkeitsgrad.
Axel Grusser
Die Gipfel im Oberreintal
Unangefochtenes Highlight unter den Oberreintaler Gipfeln ist linker Hand der Oberreintaldom bzw. seine Nordwand. Hier gibt es lange und meist schwere Routen, klassische Verschneidungen wie die „Gonda“ und auch gut gesicherte, aber fette Neuner. Vorgelagert ist der Berggeistturm mit Routen in allen möglichen Klassen. Dann kommt zwar nicht so riesig, aber sehr elegant der Untere Schüsselkarturm daher. Er steht mitten da, vor der Schüsselkarspitze, zwischen Schüssselkar und Scharnitzkar und lockt mit vielen mittelschweren Routen in Traumfels. Weiter nach rechts steht der Hüttengipfel, der Oberreintalturm mit seinen immer höher werdenden „Nebengipfeln“, an dem vor allem die kurzen Zustiege echt einladend auf den Betrachter wirken! Und schließlich begrenzen die Zundernköpfe den Talkessel. Der Fels ist dort zwar nicht mehr Spitzenklasse, aber immernoch lochnend. Viel Spaß also und lasst es krachen! „Hei mi leckst am Arsch!“