Stephan Siegrist ist einer der vielseitigsten deutschsprachigen Profibergsteiger der Gegenwart. Der 44-jährige Schweizer wurde bereits 1999 einem breiteren Publikum bekannt, als er mit einem Fernsehteam des SRF in rund 30 Stunden die Eiger Nordwand durchkletterte. Die Liveübertragung war damals eine mediale Pioniertat.
Seitdem hat sich viel getan – Siegrist hat mit Profis wie Dani Arnold, David Göttler oder den Huber-Buam eine Vielzahl alpinistischer Höchstleistungen im Himalaya, in Kaschmir, in Patagonien und weiteren Gebirgsregionen auf der ganzen Welt vollbracht. Die erste Wiederholung der von Jeff Lowe 1991 erstbegangenen Route „Metanoia“ am Eiger Ende 2016 zusammen mit Roger Schäli und Thomas Huber ist nur ein Beispiel dafür.
Bergzeit Magazin-Autor Franz Mösbauer, selbst begeisterter Alpinist und ein Multitalent am Berg, hat sich mit Stephan unterhalten.
Leistung oder Erlebnis – worauf kommt es am Berg an?
Auf deiner Homepage findet sich folgendes Zitat von Anderl Heckmair: „Bei meinen bergsteigerischen Unternehmungen hatte ich allzeit den Grundsatz, es kommt nicht auf die Leistung, sondern auf das Erlebnis an.“ Ist dies auch Deine Einstellung?
Stephan Siegrist: Der Spruch hat mich schon sehr fasziniert. Ich habe Anderl mehrmals persönlich getroffen. Sein Charakter hat mich sehr beeindruckt. Da auch das Zitat sehr gut zu meiner Einstellung passt, habe ich es „geklaut“ (lacht). Leistung gehört ebenso dazu wie das Erlebnis mit Freunden, mit anderen Kulturen und Landschaften. Auch wenn dies schwieriger zu vermarkten ist. Mit dieser Philosophie bin ich schon immer in die Berge gegangen und ich versuche, mir dies zu erhalten. Sobald Du nur noch von Erfolgen getrieben bist und es zum Job wird, ist es vorbei mit deinem Hobby.
„Meine Projekte basieren ganz klar auf Eigeninteresse“
Versuchst Du die Ziele so zu wählen, dass sie dich einerseits begeistern und andererseits auch vermarkten lassen?
Stephan Siegrist: Meine Projekte basieren ganz klar auf Eigeninteresse und mich motivieren abgeschiedene Regionen, auch zu „besteigungsungünstigen“ Jahreszeiten, wie zum Beispiel im Winter in Patagonien. Auch, um den Menschenmassen auszuweichen, sowie das Ursprüngliche wieder zu erleben. Ebenso Kaschmir, welches seit über 20 Jahren politisch sehr instabil war und teilweise auch noch ist. Dort stehen wahnsinnig tolle und technisch anspruchsvolle Berge, die mich sehr reizen. Wobei das Hauptkriterium sicherlich die Ästhetik eines Berges ist.
Du wählst vorzugsweise „niedrigere“ Berge mit technischen Schwierigkeiten und weniger Gestapfe aus, richtig?
Stephan Siegrist: Sicherlich dürfen die Berge eine gewisse Höhe haben. Aber das 8.000er-Bergsteigen mit der ganzen Akklimatisationszeit und dem Rumgesitze interessiert mich persönlich nicht. Und bei dem ganzen Trubel in den meisten Basislagern kann ich auch zu Hause bleiben (lacht).
Dennoch gibt es ganz geniale und elegante Touren, wie den Makalu Westpfeiler, den wir mal versucht haben.
Welche aktuellen Touren aus der alpinen Szene beeindrucken Dich am meisten?
Stephan Siegrist: Ich respektiere generell alle, die große Ziele realisieren. Aber die Begehung von David Göttler und Hervé Barmasse an der Shishapangma Südwand finde ich klasse. Gerade solche schnellen Begehungen sind sicherlich die Zukunft an den hohen Bergen. Je kürzer Du in großer Höhe unterwegs bist, umso weniger setzt Du dich den Gefahren aus. Aber auch die Aktionen der jungen Sportkletterer interessieren mich genauso.
„Durch Social Media besteht eine gewisse Gefahr für unseren Sport“
Wie siehst Du die derzeitige alpine Berichterstattung über Social Media, welche gefühlt nur noch aus den Superlativen „noch schneller“ und „noch schwerer“ bestehen. Gehen wirkliche Leistungen unter?
Stephan Siegrist: Gute Frage. Mit Social Media und dem schnellen posten von Inhalten besteht in der Tat eine gewisse Gefahr für unseren Sport, da eine „Jury“ fehlt. Ich denke, die schnelle Veröffentlichung verleitet manchmal auch zu Lügen, während man sich früher mehr Zeit für Veröffentlichungen nehmen konnte. Das Wort des Bergsteigers zählte lange. Heute kommt man um Beweise nicht mehr rum. Dies wurde auch am diesjährigen Piolet d’Or (der namhafteste Preis für extreme alpinistische Leistungen, Anm. d Red.) mehr gefordert. Außerdem ist es heute viel leichter, Beweise zu erbringen.
Du hast betont, dass dich exotische Ziele abseits der Massen am meisten anziehen. Da fällt mir Mick Fowler ein, der seit Jahren beeindruckend unbekannte Ziele ausgräbt und in einem ebenso beeindruckenden Stil klettert.
Stephan Siegrist: Leider kenne ich Mick immer noch nicht persönlich, aber wenn wir uns abgeschiedene Ziele ausgesucht haben, hat Mick an dem gleichen Berg oder daneben sicherlich schon etwas gemacht. So war es am Thalay Sagar und am Arwa Tower – in Kaschmir und Kishtwar. Immer wenn Du dachtest, ein tolles Ziel gefunden zu haben, war er sicherlich schon dort. Das nervt fast schon (lacht).
Beim Himalaya-Bergsteigen ist das Risiko ein ständiger Begleiter, was sich auch im tragischen Tod Deines Freunds Ueli Steck wiederspiegelt. Wie gehst Du mit solchen Ereignissen um?
Stephan Siegrist: Für mich war es ein ziemlicher Schock – vor allem da Ueli für mich schon fast unsterblich war. Wenn Du beim Bergsteigen ein gewisses Alter erreicht hast, hast Du schon viel dazu gelernt, so dass die Chance, etwas „Gröberes“ zu überleben, höher ist als in jüngeren Jahren. Auch wenn der Unfall noch ungeklärt ist, passierte es sicherlich in keinem Gelände, das Ueli Schwierigkeiten bereitet hätte. Wir haben sehr viel zusammen erlebt und zusammen gemacht. Dies sind sehr traurige Momente.
Wie gehst Du selbst mit dem Thema Risiko auf Expeditionen um?
Stephan Siegrist: Dies beginnt schon bei der Expeditionsplanung – und welches Ziel Du angehst. Gibt es z.B. bei einem Berg, der dich reizt, die Möglichkeit, über Grate oder Nordseiten mit weniger Sonneneinstrahlung auszuweichen, um die objektiven Gefahren im Vorfeld auszuschließen? Dazu kommt, dass ich sicherlich nie ein Hasardeur war. Ich versuche, soweit es geht, auch sicher unterwegs zu sein. Dennoch braucht es extrem wenig, dass etwas schief läuft. Und da brauchen wir uns das Bergsteigen auch nicht schönreden, da es einfach gewisse Gefahren mit sich bringt.
„Ich dachte, dies wäre die dümmste Route, die man am Eiger klettern kann“
Obwohl die Route „Metanoia“ an der Nordwand des Eiger von Jeff Lowe als alpiner Meilenstein gilt, hat es mich immer schon gewundert, dass diese Tour erst jetzt, 25 Jahre später, von Euch zum ersten Mal wiederholt worden ist. Warum?
Stephan Siegrist: Es braucht einerseits spezielle Bedingungen. Und als Jeff damals die Tour geklettert ist, war es eine halbe Tragödie. Als ich davon gelesen habe, dachte ich, diese Route ist Harakiri – zumal sich Jeff zur Zeit der Erstbegehung auch noch in einer Lebenskrise befand. Für mich wäre eine Wiederholung wie Selbstmord gewesen. Dann kam der Anruf von Thomas und ich dachte, dies wäre die dümmste Route, die man am Eiger klettern könnte. Doch danach habe ich mich immer mehr dafür interessiert. Zu dem Mythos trägt auch noch der ungenaue Routenverlauf bei. Wäre Jeff nicht mehr am Leben, so hätten wir die Route nie gefunden. Jeff hat uns ganz klar sehr genaue Informationen gegeben. Auf großformatigen Bildern konnte er uns sogar nach so vielen Jahren noch den genauen Routenverlauf sagen. Und beim zweiten Versuch haben wir schließlich immer wieder Material von ihm gefunden. So wussten wir, dass wir auf dem richtigen Weg waren.
Mit Michel Pitelka bist Du die „Heckmair“ am Eiger in der Ausrüstung der Erstbegeher geklettert. Wo liegen die Unterschiede der damaligen zur heutigen Ausrüstung?
Stephan Siegrist: Was die Entwicklung angeht, macht die Ausrüstung jedes Jahrzehnt einen riesen Schritt. Auch, seitdem wir die „Heckmair“ so geklettert sind. Insbesondere die Leichtigkeit, Festigkeit und die Funktionalität hat sich stark verändert. Alles, was einem Bergsteiger zugutekommt und wodurch schnelle Begehungen erst möglich werden. Auf jeden Fall war es eine sehr gute Erfahrung, sich in die Zeit zurückzuversetzen und zu sehen, was es für ein scheiß Material war (lacht). Wir mussten uns auch mit dem Material vertraut machen und haben verschiedene Touren, wie den Mittellegigrat, davor gemacht. Du musst alle Eigenheiten rausfinden. Aber es ist dennoch schwer und unbequem.
Du bist seit über 20 Jahren bei Mammut und seit einigen Jahren auch bei Medi /Cep unter Vertrag. Was ist deine Lieblingsausrüstung von diesen zwei Firmen?
Stephan Siegrist: Bei Mammut finde ich die Eiger-Kollektion gut gelungen. Zudem gibt es auch in der Hardware und im Schuhwerk einige interessante Neuerungen. Die Kompressionssocken von Cep sind inzwischen das Kleidungsstück, das ich jeden Tag trage – auch auf Expeditionen. Und die sehr hilfreichen Bandagen für Knie, Rücken, Fußgelenk etc. von Medi sind auf jeder unserer Expeditionen ebenfalls mit dabei!
„Ich versuche, auf verschiedenen Standbeinen zu stehen“
Ich fand es Klasse, wie Peter Habeler im Alter von 74 Jahren heuer noch die Heckmair geklettert ist. Auch wenn Du noch viel jünger bist, wo führt Dein Weg zukünftig hin?
Stephan Siegrist: Das werde ich oft gefragt. Aber die Antwort weiß ich selber nicht (lacht). Bisher ist in meinem Leben alles so gekommen, wie es gekommen ist. Aber sicherlich mache ich mir meine Gedanken. Vor allem mit der Familie versuche ich, auf verschiedenen Standbeinen zu stehen. Deshalb habe ich auch meinen Gast nie aufgegeben, da er mir zu wichtig ist. Vielleicht führe ich zukünftig auch wieder mehr. Immer spannend ist es, Vorträge zu halten. Wobei dies nur klappt, wenn Du Medien hast und Medien hast Du nur, wenn Du etwas erreicht hast.
Zum Abschluss noch eine kulinarische Frage: In Bayern halten wir uns mit Bier, Weißwürsten und Brezen am Leben. Seid Ihr Schweizer wegen Käsefondue und Ovomaltine so stark unterwegs?
Stephan Siegrist: (lacht) Dafür bin ich zu viel mit beiden unterwegs, als dass ich nicht alles mögen würde. Bei den Huberbuam lernst Du, dass Bier ein Grundnahrungsmittel sein kann. Aber Ovomaltine und Schoko mag ich sehr und dies kommt auch immer mit. Zu Hause versuche ich mich, ausgewogen zu ernähren. Untypisch schweizerisch auch mit viel Salat. Außer bei einem Raclette kannst Du mich aber mit Käse jagen (lacht).
Stef, vielen Dank, dass Du dir die Zeit genommen hast und für das tolle Gespräch!
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