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Sturztraining: Natürlich hilft das Loslassen-Üben in einem bestimmten Bereich, aber oft flankieren noch zahlreiche andere Faktoren das ungute Gefühl, das eben aufkommt, wenn man mit dem Knoten 1,5 Zentimeter über dem Haken steht. Um diese Faktoren, allgemein bekannt als Sturzangst, soll es in diesem Artikel gehen.
- Sei geduldig mit Dir selbst. Man fühlt sich nicht jeden Tag gleich mutig. Stress kann Sturzangst verschlimmern.
- Was sagen die Stimmen in Deinen Kopf? Beobachte Dich beim Klettern ganz genau, um herauszufinden, was Dir konkret Sorgen bereitet.
- Hinterfrage diese Sorgen: Sind sie realistisch? Kannst Du Dich ihnen – in einem sicheren Rahmen – stellen?
- Auch ein Stärken-Tagebuch kann helfen, Dein Selbstvertrauen in Dich und Dein Kletter-Können zu stärken.
- Wage Dich ans Sturztraining – aber ganz behutsam! Du bestimmst das Tempo. Beginne im Toprope, bevor Du Dich an den Vorstieg wagst.
Warum? Die Frage nach dem wahren Antrieb
Eine Frage, die Ehrlichkeit mit sich und etwas Nachfühlen brauchen wird: Warum willst DU loslassen können? Was ist der wahre Antrieb? Geht es darum, mit “den anderen” mithalten zu wollen? Willst Du gefallen? Meinst Du, dass nur Vorstieg inklusive bedenkenlosem Loslassen “richtiges Klettern” ist? Dass Toprope Kinderkram ist und “man” das besser machen muss? Willst Du cool sein?
Oder willst Du aus einem ganz inneren Antrieb unabhängig in einen Klettergarten oder eine Halle gehen können, um dort einfach zu klettern? Und eine weitere essenzielle Frage:
In welchen Momenten hast du beim Klettern eine besonders gute Zeit?
Per se ist auch ein Antrieb des Gefallenwollens oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Community nicht grundsätzlich falsch – es ist allerdings hilfreich, das dann auch zu wissen.
Christian Seitz
Sturzangst: Kenne Dein Energielevel
Oft schwankt unser Mutbudget ganz erheblich – an einem Tag können wir mutig klettern, am anderen fürchten wir uns vielleicht schon im Toprope. Das ist eine normale Schwankung, sie hängt am Ende (abgesehen von Rahmenbedingungen wie z.B. dem Hormonhaushalt) meistens mit dem aktuellen Energielevel zusammen.
Hat man Stress in der Arbeit, schlecht geschlafen, gibt es Probleme mit unseren Nächsten oder finanzielle Sorgen, ist die innere Batterie nicht voll geladen. Damit sind wir nicht so leistungsstark, wie wir es von uns an Spitzentagen kennen. Die Folge (unter anderem): Sturzangst.
Dein Mutbudget ist abhängig von Deiner Tagesform und kann ganz erheblich schwanken.
Als erste Maßnahme hilft dabei nur Geduld, denn die innere Energie ist nicht so schnell aufgeladen. Wichtig ist in diesem Fall, sich zunächst um sich selbst zu kümmern und bis dahin einfach nur regenerativ und rein zur Freude zu klettern.
Stimmen im Kopf verschlimmern die Sturzangst
Beobachte beim Klettern einmal Deine Gedanken. Aber sei nachsichtig mit Dir, wenn du nach vier Zügen schon wieder nicht mehr darauf achtest – kehre einfach zurück, wenn es Dir auffällt. Von was handeln sie, was sagen sie? Oft sind es extrem harsche Ansagen uns selbst gegenüber. “Jetzt fürchtest Du Dich schon wieder”, “Jetzt stellst Du Dich schon wieder so an”, “Was machst Du eigentlich hier, Du kannst das ja eh nicht!”
Vielleicht sind es auch Gedanken, die sich um Angst drehen – womöglich macht Dir die Höhe einfach blanke Panik, vielleicht hast Du Sorge, dass Du Dich bei einem Sturz verletzen könntest, vielleicht auch große Angst davor, plötzlich abzurutschen, Dich dabei sehr zu erschrecken. Oder Du machst Dir Sorgen, dass Du nicht verlässlich gesichert wirst? Beobachte einfach über mehrere Tage Deine Gedanken, wenn Du magst, schreib sie auf! Was macht es mit Dir, wenn Du sie so liest?
Gnade mit sich
Viele von uns wollen stets besser sein, idealerweise perfekt. Wir wollen alles gut können und machen uns innerlich fertig, wenn das (noch) nicht der Fall ist oder wir das Gefühl haben, uns anzustellen. Wenn es Dir so geht:
Sei gnädig mit Dir. Geduldig und so liebevoll, wie Du es mit einer guten Freundin wärst.
Der erste Schritt ist stets die Akzeptanz von dem was ist. Du BIST so – zumindest jetzt momentan. Akzeptiere es in seiner vollen Gänze, es darf so sein. Jeder hat Defizite, jeder hat Ecken und jeder hat Bereiche, in denen er nicht exzellent ist. Wir sind Menschen, wir dürfen das. Macht man sich selbst nieder, setzt man sich gleichzeitig auch unter Druck, es endlich besser können zu müssen – dieser Druck ist weder heilsam noch förderlich. Akzeptiere, was gerade ist und schließe Deinen Frieden damit.
Was hindert Dich am loslassen?
Gehe dieser Frage einmal in Ruhe nach. Bei vielen bedeutet Sturzangst, sich vor dem Aufprall zu fürchten, sie haben Angst vor einer Verletzung oder haben einen gewissen Film im Kopf, wie das Ankommen an der Wand aussehen könnte. Manche haben Angst vor dem freien Fall und wieder andere haben große Hemmung, loszulassen und damit die Kontrolle abzugeben. Viele vertrauen auch dem Material nicht oder fühlen sich in der Höhe einfach an sich unendlich unwohl.
Christian Seitz
Kenne Deine Angst möglichst genau und richte Dein Training darauf aus (oder vermeide besondere Angst-Stellen (Überhang, Dächer, Routen mit weiten Hakenabständen) so lange, bis Du Dich irgendwann bereit dafür fühlst! Wer dem Material nicht vertraut, kann es am Boden genau prüfen und den Partnercheck besonders gewissenhaft durchführen. Wer Angst vor dem Aufprall hat, kann im behutsamen Sturztraining lernen, dass das Aufkommen sehr sanft und unproblematisch ist – weiches Sichern vorausgesetzt.
Beobachte diese Angst weiter – es könnte gut sein, dass sie sich nach jedem Erkennen wieder ein Stück weit verändert.
Hinterfrage bei jeder neuen Sorge, ob sie wahr ist und wie Du Dir selbst behutsam zeigen könntest, dass sie so nicht begründet ist.
Fokus aufs Klettern
Viele, die Angst beim Klettern verspüren, fokussieren sich mit der Zeit immer mehr darauf. “Hier könnte ich nie und nimmer loslassen!” Schon sind Druck und Selbstzweifel wieder da. Ziel ist dann, den Fokus hin zum Klettern zu bringen – und ihn dort auch zu halten! Mit bewusstem, lautem Ausatmen schafft man eine gewisse Distanz zur Angst. Auch ein Mantra kann helfen (Ich kann das. Ich bin stark. Noch ein Zug. Ich werde gehalten.) und manchmal einfach auch ein lautes Schnauben.
Stärken-Tagebuch wider die Sturzangst
Gerade wenn Du meinst, dass Du nichts kannst oder nicht gut genug bist, führe ein Klettertagebuch, in das Du einträgst, was Dir heute gut gelungen ist oder wo Du heute stark und mutig warst. Führe ALLES auf, was Dir in den Sinn kommt und zelebriere jeden einzelnen Schritt, möge er noch so klein sein. Es ist ein Schritt in Richtung Deines Traumes! Feier ihn!
Behutsames Training bei Sturzangst
Manchmal entsteht der Eindruck, dass Sturztraining einfach nur “Möglichst-Weit-Oben-Loslassen-und-alle-Ängste-aushalten” bedeutet – und dass es dann bestimmt besser wird. Das ist nicht so. Beim Sturztraining geht es um ein behutsames Rantasten in einzelnen Stufen.
Das behutsame Herantasten braucht Zeit, ist aber nachhaltiger.
Die nächste Stufe wird erst genommen, wenn die letzte ohne Bedenken, Sorgen oder Ängste funktioniert. Dieses Herantasten braucht Zeit und Geduld, ist aber nachhaltig und angenehm(er).
Stürze im Toprope
Die erste Stufe ist das Loslassen im Toprope mit Absprache. Du versicherst Dich bei Deinem/r Partner/in, dass bei ihm/ihr auch alles passt und lässt dann los. Später wird es ohne Absprache gehen.
Setze Dich im Toprope etwa auf mittlerer Wandhöhe (oder im oberen Drittel) ins Seil. Dein/e Sicherungspartner/in blockiert das Seil und tut ab jetzt nichts mehr. Du kletterst ein Stück nach oben und lässt los. Hat es sich gut angefühlt, kletterst Du beim nächsten Mal einen Zug weiter oder setzt den Fuß noch ein Stück höher. Lasse wieder los. Taste Dich behutsam weiter, mache erst den nächsten Schritt, wenn der vorher sich okay angefühlt hat. Freue Dich an jedem weiteren Schritt! DAS ist Sturztraining!
Stürze im Vorstieg
Hierfür ist ein vertrauensvolle/r, verlässliche/r Sicherungspartner/in unerlässlich. Führt gewissenhaft einen Partnercheck durch und achte als Sicherungspartner/in darauf, mit voller Konzentration bei dem/der Kletternden zu sein und ein möglichst weiches Landen zu ermöglichen – als verhältnismäßig schwere/r Sicherungspartner/in bedeutet das entsprechendes Entgegenspringen!
- Klettere im Vorstieg die vierte Exe an, clippe sie und lasse sie – anfangs auch nach Absprache – los. Wiederhole auch das auf Deinem Weg nach oben, bis es sich okay für Dich anfühlt.
- Clippe die Exe und klettere mit der Hand bis auf Höhe der Exe – lass hier los.
- Noch ein Zug weiter über die Exe!
- Lasse mit dem Knoten auf Kniehöhe los.
- Lasse mit dem Knoten auf Fußhöhe los.
- Klettere leicht versetzt und lasse dort los.
- Lass Deinen Sicherungspartner die Kommandos des Loslassens geben (sprich eventuell davor ab, wie weit Du maximal über die geclippte Exe klettern möchtest)
- Steige in eine für Dich schwierige Route ein und praktiziere dort Sturztraining!
Sei behutsam bei diesem Training, übertreibe es nicht, integriere es aber möglichst regelmäßig in Deine Klettertage. Beobachte, wie sich Deine Sorgen verändern. Kannst Du eine Veränderung spüren, wenn Du jetzt in eine andere Tour einsteigst?
Es wird oft geraten, Sturztraining in einer überhängenden Wand zu üben – für manche ist allerdings ein Überhang ein zusätzlicher Stress-Faktor. Es spricht nichts gegen Sturztraining an einer senkrechten Wand – die Vorstellung des Aufpralls ist bei den meisten deutlich spektakulärer, als es in Wirklichkeit ist.
Überzeuge Dich in behutsamem Ausprobieren am besten selbst!